Montag, 29. Februar 2016

Die unerträgliche Leichtigkeit des Meinens

Vorsicht! Diese Gedanken sind unzeitgemäß. Sie sind überspitzt, erscheinen in ihrem Anspruch naiv und sind möglicherweise gerade hier unangebracht. Oder doch nicht?

In Zeiten, in denen nichts ungesagt und nichts unveröffentlicht bleibt, herrscht kein Mangel an Meinungen. Kaum etwas bleibt unkommentiert, nichts ungepostet. Terabytes an Meinungen stolpern durch die Datenleitungen, füllen unsere Bildschirme, erhitzen unsere Köpfe und pressen unser wallendes Blut wieder zurück in den ächzenden Kreislauf des Datennetzes. Haben wir dadurch mehr Meinungsvielfalt? Standhaftere Charaktere? Eine couragiertere und konstruktivere Zivilgesellschaft? Es erscheint mir zumindest fraglich. Denn im Kreuz- und Querschreien der Meinungen wird kaum noch etwas gehört.

Wie viel Mühe nehme ich auf mich, um eine andere - vielleicht sogar radikal andere - Meinung zu verstehen, ehe ich den eigenen Standpunkt in die Tastatur hämmere? Von welchen Fakten gehe ich aus? Habe ich sie überprüft? Habe ich meinen Gedankengang kritisch in Frage gestellt - seine Folgerichtigkeit, die Voraussetzungen, von denen er ausgeht, und wohin er führt? Habe ich zumindest versuchsweise die Gegenposition eingenommen und auch diese geprüft – ihre Folgerichtigkeit, ihre Prämissen, ihre Folgen? Mag sein, dass ich bei meiner Meinung bleibe. Mag sein, dass ich sie verwerfe. Mag auch sein, dass sie mir fragwürdig wird, und ich sie noch zurückhalte. Ganz sicher verliere ich so Zeit im minutenschnellen Wettstreit der Meinungen. Aber ich gewinne Qualität und Wertschätzung in der Auseinandersetzung.

Das ist kein Plädoyer für das Verstummen. Und es ist schon gar kein Plädoyer für eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. In einer demokratischen und offenen Gesellschaft gibt es keine rechtmäßige Instanz, die über die zulässige Qualität einer Meinung entscheiden kann. Das liegt allein in der Verantwortung jedes Einzelnen. Insofern ist es ein Plädoyer, das sich ausschließlich an den Einzelnen richtet. Es ist ein Plädoyer dafür, innezuhalten, zuzuhören und verstehen zu wollen.

Meinungsfreiheit kann auch bedeuten, auf einen Kommentar zu verzichten. Weil ich dem anderen Raum geben möchte, um ihn besser verstehen zu können. Weil ich meine Pflicht einlösen möchte, mich vorher zu informieren, bevor ich mein Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nehme.

Donnerstag, 21. Januar 2016

Die Obergrenze und der freie Fall

Es ist erstaunlich, wie gut es dem bisher noch unbegrenzten Flüchtlingsproblem gelingt, die Grenzen von Intelligenz und Charakter der politischen Akteure offenzulegen. Da stopfen erwachsene und gewählte bzw. ernannte Bürger auf offener Bühne ihre Sprechblasen in dermaßen verbogene Redewindungen, dass dem Zuhörer vor lauter Unsinn der Kopf zu schmerzen und die Haut zu jucken beginnt. Da sitzt eine auf die Verfassung vereidigte Ministerin in einem Fernsehstudio, die allen Ernstes die »juristische Seite beiseitelassen« und nur auf die Fakten schauen möchte – und schaut dann haarscharf an den Fakten vorbei. Neben dem humanitären Aspekt gibt es drei wesentliche Gründe bzw. Fakten, warum diese Obergrenzen-Rhetorik einen Tiefpunkt der kulturellen Entwicklung darstellt.

Erstens: Realitätsferne. - Die Regierung agiert wie eine Wohngemeinschaft, die im Badezimmer einen Rohrbruch feststellt und die Tür zumacht, damit das Wasser nicht ins Wohnzimmer rinnt. Dort ist’s nämlich noch recht trocken und gemütlich. Der einzige Sinn einer Obergrenze – und das wird auch offen zugegeben – ist es, Druck aufzubauen und einen Dominoeffekt auszulösen, der die Flüchtlinge zurück nach Griechenland oder sogar in ihre kriegsgeschüttelte Heimat spült. Aber werden sie dortbleiben? Oder werden sie – mit der Hilfe hochbezahlter Schlepper - andere Wege nach Europa suchen? Gut möglich, dass wir uns auf der oberbegrenzten Österreich-Couch ein paar Stunden ausruhen können. Aber wenn wir aufstehen – beispielsweise um uns ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen – werden wir knöcheltief im Wasser stehen.

Zweitens: Verlust der politischen Kultur. – Natürlich gibt es eine »faktische Obergrenze«. Wenn nämlich alle Flüchtlinge der Welt nach Österreich kommen, dann würde das tatsächlich nicht funktionieren - jedenfalls nicht gut. Andere Staaten müssen auch helfen. Das funktioniert aber in Europa bekanntermaßen nicht. Deshalb – so die äußerst begrenzt smarte Idee – müsse man durch nationale Obergrenzen Druck auf die EU ausüben, um eine europaweite Lösung zu erzwingen. Druck erzeugt Gegendruck und Schäden im System, aber keine tragfähigen Lösungen. Wer meint, politische Lösungen durch Druck und Gewaltmaßnahmen erreichen zu können, hat das Feld des politischen Dialogs bereits verlassen. Es gibt nur eine Alternative zu einer europäischen Lösung: Das Zerbrechen der Europäischen Union. Die Obergrenzen-Rhetorik leistet dafür einen nachhaltigen Beitrag.

Drittens: Verlust der Rechtskultur. - Mag sein, dass die von der Regierung eingesetzten Rechtsgelehrten nach einigem Biegen und Beugen eine Obergrenzen-Lösung formulieren, mit der wir uns aus den allergröbsten Rechtsbrüchen eine Zeitlang herausreden können. Dazu zählen auch unverfrorene Schlitzohrigkeiten wie: Wir bearbeiten Asylanträge halt einfach nicht. Mag sein, dass das gelingt. Aber damit werden wir dann nicht nur das Feld des politischen Dialogs verlassen haben, sondern auch das Terrain der Rechtskultur. Geradlinige Rechtsstaatlichkeit ist vermutlich die größte Kulturleistung der menschlichen Zivilisation. Kant bezeichnete mit unkonfessionellem Blick das Recht als »den Augapfel Gottes auf Erden«. Wenn europäischen Staaten ihre geradlinige Rechtskultur aufgeben, dann ist Europa nicht nur eine taumelnde Gemeinschaft, sondern als Gesellschaft im freien Fall - ins Bodenlose.

Mittwoch, 6. Januar 2016

Flüchtige Obergrenzen und österreichischer Schludrian

Die österreichische Politik ist uneins, ob Obergrenzen für Flüchtlinge eingeführt werden sollen. Die einen fordern es, die anderen sind empört und wieder andere entlarven es als nutzlose Scheinaktivität. Österreich wäre allerdings gut beraten, auf die Einführung von Obergrenzen zu verzichten. Dafür gibt es juristische, humanitäre und praktische Gründe. Aber der wesentlichste Grund ist tief in der österreichischen Mentalität verwurzelt. Österreich ist gerade nicht dafür bekannt, Regeln und Richtlinien konsequent umzusetzen.

Die einzige Logik, die eine Obergrenze haben kann, ist die der Abschreckung. Man verspricht sich davon, dass Flüchtlinge Länder mit Obergrenzen meiden. Doch bevor die Nachricht von einer Obergrenze Syrien, Afghanistan oder den Iran erreicht, sind die Menschen schon unterwegs. Rasch stehen mehr vor unserer Tür, als wir gemäß Obergrenze aufnehmen wollen.

Und jetzt wird’s österreichisch: „Na wegn de poar werd‘ ma a net zgrund gehen. De los ma a no eine. Ha, wos manst?“ Die nächste Kunde, die Syrien, Afghanistan oder den Iran erreicht, ist: Die Österreicher nehmen es mit der Obergrenze eh nicht so genau. Und so hätten wir den Schaden, den Spott – und ein paar Prozent mehr für die FPÖ bei den nächsten Wahlen.

Freitag, 25. September 2015

Toleranz ist keine Dekoration

Toleranz ist keine einfache Sache. Toleranz ist die wohl schwierigste Haltung überhaupt. Denn sie muss sich dort beweisen, wo es am schwierigsten ist, wo es uns am meisten weh tut. Sie muss sich an einer Meinung, an einer Lebenseinstellung oder Werthaltung beweisen, die der jeweils eigenen radikal widerspricht. Dort nämlich, wo es uns leicht fällt, wo es bloß um eine mehr oder weniger große Variation eigener Einstellungen geht, dort ist Toleranz sehr oft bloße Attitüde, bildungsbürgerliche Folklore oder seelische Dekoration.

Dort aber, wo wir auf unser Gegenteil stoßen, wo wir auf das aus unserer Sicht Barbarische treffen, dort werden die tiefliegenden Nervenbahnen unserer Toleranz offengelegt. Wir werden harsch aus Selbstverständlichkeiten gerissen, und wir bemerken, dass unser Verständnis von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten nicht überall geteilt wird. Wir bemerken, dass unser globaler Anspruch, in all diesen Fragen im Recht zu sein, nicht überall Wirklichkeit ist. Wir bemerken, dass die Decke der Zivilisation nicht nur dünn ist, sondern auch zu kurz für die ganze Welt.

Wie muss unsere Toleranz mit Intoleranz umgehen? Gibt es Null-Toleranz gegenüber Intoleranz? Wie geht die Demokratie mit ihren Feinden um? Lässt sie sie gewähren? Oder setzt sie sich zur Wehr und schützt sich – nötigenfalls auch mit Gewalt, mit Intoleranz, mit autoritären Maßnahmen?

Keine Frage, wenn fundamentale Werte wie Freiheits- und Menschenrechte bedroht werden, dann muss man dem entschieden und energisch entgegentreten. Sobald man das aber tut, tritt man in eine Beziehung mit dem Barbarischen ein. Das radikal Andere gewinnt Einfluss, ob man will oder nicht. Um uns vor den Angriffen der Unfreiheit zu schützen, schränken wir unsere Freiheiten ein. Um unsere Menschrechte zu bewahren, weichen wir sie zum Teil auf. Man denke nur an Überwachungsmaßnahmen, die uns vor Terror schützen sollen. Sollte man das etwa nicht tun? Doch, sollte man.

Aber Abgrenzung allein hilft uns nicht. Bloße Abwehr schützt keinen Wert. Wir müssen einen Schritt auf das Andere, auch auf das Barbarische, zugehen, und wir müssen es verstehen wollen. Dieses Verstehen-Wollen - auch wenn es unmöglich scheint - ist eine der tiefsten Wurzeln von Toleranz. Verstehen wollen bedeutet nicht akzeptieren. Doch dieses Verstehen-Wollen gibt unserer Ablehnung Substanz. Dieses Verstehen-Wollen bewahrt uns davor, Toleranz und Ignoranz zu verwechseln. Und vielleicht bringt uns das auch einen Schritt weiter.
Ich erinnere mich dieser Tage an die Anschläge in Kopenhagen, im Februar dieses Jahres. Wie viele andere Radiostationen berichtete auch die BBC ausführlich und vielfältig darüber. In einem der Beiträge war ein kurzes Interview mit einer älteren Dänin zu hören. Sie legte Blumen am Tatort nieder. Doch sie tat es nicht dort, wo die Opfer starben, sondern dort, wo der Attentäter getötet wurde. Warum sie das tue, fragte der Reporter in bekannt trockenem BBC-Stil. Weil an allen anderen Plätzen schon so viele Blumen liegen würden, sagte sie. Freilich sei es falsch, was er getan habe. Er sei eine verirrte Seele gewesen, die in dieser Gesellschaft keine Chance hatte. Und sie hoffe, dass ihm sein Gott verzeihe. Sie hätte, so meinte sie, Mitleid mit seiner Familie und seinem kurzen Leben. Und welchen Einfluss würde diese Tat auf die dänische Gesellschaft haben? - wollte der Reporter wissen. Die Dame weinte leise hörbar und sagte: »Wir müssen toleranter werden - und liebevoller.«

Ja, diese Begebenheit ist eine Ausnahme. Sie beweist auch nichts. Aber sie zeigt, was dem Menschen möglich ist.

Dazu könnte man vieles sagen, erklären. Vielleicht sollte man das auch. Man kann sich aber auch nur an einen Gedanken erinnern, den Ingeborg Bachmann in einer Rede formuliert hat, 1959, vor Kriegsblinden in Köln: »Wer, wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, dass man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, dass man enttäuscht, und das heißt, ohne Täuschung, zu leben vermag. Ich glaube, dass dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist - der Stolz dessen, der in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen.«

Sonntag, 20. September 2015

Muss Wien geopfert werden?

»Wählt blau, Genossen, und rettet das Land!« Zugegeben, das sind Nachtgedanken - düstere, bittere. Vielleicht ist es auch ein Albtraum, denn bekanntlich gebiert der Schlaf der Vernunft Ungeheuer. Aber bemühen wir dennoch unsere Vorstellungskraft.

Stellen wir uns also vor, die Wiener SPÖ verliert die kommende Wahl. Stellen wir uns außerdem vor, Herr Strache wird mit sattem Vorsprung Wiener Bürgermeister und die FPÖ regiert Wien. Sie dominiert den Gemeinderat, bildet den Stadtsenat uns sitzt an allen Schaltstellen der Macht. Stellen wir uns das alles einmal vor. Und stellen wir uns weiter vor, all das geschieht mit Absicht. Nicht so sehr von Seiten der FPÖ, sondern von Seiten ihrer Gegner, allen voran von Seiten der SPÖ.

Was wird geschehen? Die Jahre ziehen ins Land: 2016, 2017 ... Die Routineabläufe der Stadt werden weiterhin funktionieren, jedenfalls dort, wo es der rote Verwaltungsapparat zulässt. Da und dort wird es vielleicht Pannen geben, die für die Menschen ärgerlich sind und obendrein die Zweifel nähren, ob die Stadt nun tatsächlich gut verwaltet ist.

Das internationale Ansehen der Stadt geht zurück. Künstler und Kulturschaffende beginnen, einen Bogen um die Stadt zu machen. Internationale Wissenschaftler bleiben aus, und es wird schwieriger, sich an renommierten Projekten zu beteiligen. Die Wirtschaftsdaten zeigen nach unten. Große Unternehmenszentralen überlegen, Wien zu verlassen, da es zunehmend mühsamer wird, ausländische Arbeitskräfte in die Stadt zu holen. Es gibt bessere Plätze in Europa, um Karriere zu machen, Kontakte zu knüpfen und ein vielfältiges Leben zu führen.

Die Arbeitsmarktsituation wird immer angespannter. Ob die Kriminalitätsrate in Wien gleich geblieben oder gestiegen ist, darüber gibt es Streit mit dem Innenministerium. Die Flüchtlingsfrage ist nach wie vor ungelöst und durch die restriktive Haltung Wiens in den restlichen Bundesländern eskaliert. Der zunehmenden Obdachlosigkeit begegnet man mit systematischen Polizeieinsätzen und aufgrund der reduzierten Betreuungseinrichtungen steigt die Drogenkriminalität. Die U-Bahn fährt aber wie gewohnt. Die Müllabfuhr auch.

Wien ist zu einer großen Bühne geworden. Die ganze Stadt sieht den neuen Rathaus-Herren zu. Alle anderen Bundesländer auch, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Ein bekanntes, aber neu bearbeitetes Stück wird aufgeführt: Das FPÖ-Personal verschafft sich gegenseitig Ämter, hievt sich in Machtpositionen und verteilt großzügig lukrative Positionen an die eigenen Leut´. Da sie ihr kultiviertes Facebook-Verhalten in den Politik-Alltag mitgenommen haben, wird der Umgang untereinander immer rauer und aggressiver, je näher sie den großen, aber eben doch beschränkten Futtertrögen der Stadtverwaltung kommen. Immer öfter geschieht es, dass ein Blauer mit blauen Augen den blauen Ring im Rathaus verlassen muss. Stadträte werden über Nacht hinausgeworfen, andere ernannt und dann bald wieder abgesetzt. In den Unternehmen der Stadt zeigt sich eine ähnliche Dynamik.

Es wird Sommer. Wir schreiben das Jahr 2018. Die Lügen der FPÖ sind als solche entlarvt, die Inkompetenz enttarnt, die Ahnungslosigkeit und Skrupellosigkeit unter Beweis gestellt. Das Publikum wendet sich ab, rauft sich die Haare oder verfolgt in Schockstarre das Bühnengeschehen. Die Umfragewerte der FPÖ haben sich mittlerweile bei 10 - 12% eingependelt. Das sind keine günstigen Voraussetzung für den beginnenden Nationalrats-Wahlkampf. Wer wird überhaupt Spitzenkandidat der FPÖ sein? Der Wiener Bürgermeister, der alle Hände voll zu tun hat seine Bande zu bändigen? Auf Bundesebene wird die blaue Truppe nun höchtens unter »ferner liefen« ins Ziel kommen. Österreich kann aufatmen. Wien hat das Land gerettet.

All das eine schreckliche Vorstellung? Aber was ist die Alternative? Die FPÖ landet bei der kommenden Wien-Wahl knapp hinter der SPÖ auf Platz 2 und hetzt drei Jahre lang eine »Rot & Co Koalition« vor sich her, ehe sie 2018 den Bundeskanzler stellt. Ist ein Opfer auf Zeit da nicht die bessere Wahl? Denn zwei Jahre später ist es ja auch für Wien so weit. Wien darf wieder wählen. Und Michi Häupls Nachfolger kann dann seinen Wienern zurufen: »So an Bledsinn mochts ma oba nimma!«

Donnerstag, 17. September 2015

Das Fremde und der Wohlstand

Das Fremde macht uns Angst. Das Fremde zieht uns aber auch an. Es fasziniert. Aber was bedeutet überhaupt fremd? Und wie viel Fremdes steckt in uns?

Menschen aus fernen Ländern und anderen Kulturen sind augenscheinlich fremd. Sie kleiden sich anders, verhalten sich anders. Sie beten, essen und lachen anders. Sie fallen auf.

Aber nicht nur sie sind fremd. Auch wir, die wir uns gut kennen, wir, die wir in derselben Stadt, im selben Dorf oder im selben Tal geboren sind, wir Altbekannten also sind uns oft äußerst fremd. Wir haben unterschiedliche Meinungen, konträre Ideen und Lebensentwürfe, verstörenden Gewohnheiten. Wir sind - könnte man sagen - sehr oft einander nicht grün.

Auch die Wege unsere Geschichte sind dicht gepflastert mit Fremdheiten aller Art. Das Christentum, das angeblich unsere Identität ausmacht, war vor knapp 2000 Jahren ein kulturfremder Import aus dem Nahen Osten und hierzulande ebenso fremd, wie es noch vor gut 100 Jahren die Demokratie war. Die Kartoffel rettete vielen unserer Vorfahren nach dem Dreißigjährigen Krieg das Leben und war als vollkommen fremde Pflanze nicht lange davor nach Europa gekommen. Gar nicht zu reden von der Eisenbahn. Die war uns nicht nur fremd, sie galt uns sogar als Teufelswerk. So warnte das bayrische Obermedizinalkollegium ganz eindringlich davor, da nicht nur das Besteigen, sondern schon der bloße Anblick einer Lokomotive eine Gehirnkrankheit auslösen könne. Wir sollten uns heute über die hirnliche Gesundheit dieses Kollegiums kein Urteil anmaßen, aber eines sollten wir uns klarmachen: Unsere Identität, unsere Kultur ist das Produkt von Fremdheiten.

Was Menschen betrifft, fordert man gerne und oft auch laut Integration. Fremde, so hört man zuweilen ohrenbetäubend, müssten sich an die Leitkultur, an die Mehrheitsgesellschaft anpassen. Doch Anpassung ist keine Integration. Anpassung ist Assimilation. Integration geht auf das lateinische Wort »integrare« zurück, das soviel bedeutet wie: wiederherstellen, erneuern, geistig auffrischen. Integration bedeutet also nicht, dass sich das Fremde an das Gewohnte anpasst. Integration bedeutet, dass das Fremde das Gewohnte verändert und umgekehrt. Integration bedeutet, dass etwas Neues entsteht. Integration bedeutet Innovation, Fortschritt und Wohlstand.

Hätte sich der Erfinder des Rades - so es ihn jemals gab - an die Mehrheitsgesellschaft bloß angepasst, würden wir noch immer am Boden sitzen und maximal zu Fuß gehen. Hätten sich Galileo und andere Astronomen an den Denkgepflogenheiten der Zeit orientiert, würden wir die Welt noch immer für eine Scheibe halten und bei jeder simplen Kreuzfahrt am Rand der Welt samt Schiff in die Hölle hinunterfallen. Wären Alexander Fleming und nachfolgende Wissenschaftler bloß den bekannten Wegen gefolgt, dann wäre das Penicillin unentdeckt und die lebensrettende Wirkung von Antibiotika unbekannt geblieben. Des Fremde führt zu Innovation und rettet Leben. Das Aussperren des Fremden hingegen führt nicht nur zu einer geistigen Verarmung, sondern auch zu einer wirtschaftlichen Verelendung der Gesellschaft.

Dieser Tage kommen viele Fremde zu uns. Wir wissen nicht, wer bleiben wird. Wir wissen nicht, wie viele es sein werden. Und wir wissen auch nicht, was das im Einzelnen bewirken wird. Dass es nicht leicht für uns wird, wissen wir aber. Und bei einem aufmerksamen Blick in unsere Geschichte wissen wir außerdem: Wenn uns Integration gelingt, dann wird unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und Kultur eine bessere als heute sein.

Donnerstag, 10. September 2015

Islamisches Abendland?

Das moderne Europa - oder sollte man blumiger Weise Abendland sagen? - dieses Europa - oder eben Abendland - ist weder christlich noch islamisch. Europa, so wie wir es heute kennen, hat sich gegen beide Religionen durchgesetzt, und wurde nicht von ihnen hervorgebracht. Europa ist ein qualvoll entbundenes Kind der Aufklärung und keine Gottesempfängnis.

Und doch ist Europa in beiden Religionen stark verwurzelt. Ein Widerspruch? Keineswegs. Denn das, wogegen man sich wehren muss, trägt man weiterhin tief in sich. Europas Geschichte und Kultur ist vom Christentum ebenso geprägt wie vom Islam. Das heute als Kampfbegriff in die Diskussion geworfene "christliche Abendland", das es angeblich zu verteidigen gilt, zeugt eher von atemberaubender Ahnungslosigkeit als von echter Kenntnis der Geschichte.

Hat man etwa vergessen, dass der Islam  beinahe ein Jahrtausend auf der Iberischen Halbinsel die politisch, religiös und kulturell bestimmende Macht war? Oder haben manche der heutigen Rädelsführer das gar nie gewusst? Die glanzvolle Hauptstadt dieses Reiches, Córdoba, war die weitaus größte Stadt Europas. Sie war wohlhabender als Konstantinopel und die Bibliothek ihrer Residenz umfasste mehr Bücher, als es im ganzen übrigen Europa zusammen gab. Die großartige Kathedrale der Stadt wurde im 8. Jahrhundert als Moschee auf den Fundamenten eines antiken römischen Tempels errichtet. Heute ist sie ein christliches Gotteshaus. So ist Europa.

Dürfen wir das antike Griechenland als die Wiege Europas bezeichnen? Ja, dürfen wir. Zumindest zum Teil. Doch bemerkenswerterweise hat sich das mittelalterliche Europa für seine Wiege überhaupt nicht interessiert. Die griechischen Schriften zu Philosophie und Mathematik, zu Wissenschaft und Staatslehre waren in Europa gar nicht verfügbar. Ganz anders im byzantinischen und islamischen Kulturkreis. Dort wurden die griechischen Schriften übersetzt und mit größter Intensität studiert. Und so kam es, dass die Bücher der griechischen Antike über den arabischen Raum nach Europa kamen. Die islamische Kultur hat - wenn man so will - Europa erst in seine eigene Wiege gelegt. Kein Abendland ohne den Islam.

Hinzu kam die hohe Wertschätzung der muslimischen Welt für das wissenschaftliche Experiment. Das hatte zur Folge, dass praktisch alle bahnbrechenden Erkenntnisse in der Medizin und Physik, in der Mathematik, Astronomie und Geografie von islamischen Gelehrten ausgingen. So griff beispielsweise die sogenannte christliche Seefahrt auf Karten zurück, die der muslimische Geograf al-Idrisi im 12. Jahrhundert angefertigt hatte. Auch Christoph Columbus hatte mehr als 300 Jahre später einen Atlas von ihm an Bord.

Es ist keine Frage: Trotz hoher kultureller Entwicklung zog der Islam eine blutige Spur durch Europa. Das Gleiche gilt für das Christentum. Europa setzte sich zur Wehr und tut es noch heute, und wir sollten weder ein christliches noch ein islamisches Abendland verteidigen wollen. Wenn überhaupt, dann sollten wir ein Europa verteidigen, das sich gegen den politischen Einfluss der Kirchen gewehrt und für Bürger-, Freiheits- und Menschenrechte gekämpft hat.

Übrigens: Was haben Wörter wie Alkohol, Havarie oder Karaffe, Magazin, Sofa und Zucker gemeinsam? Sie sind arabischen Ursprungs. Und dass wir einen Ausdruck wie "jemanden vor den Kadi zerren" für eine umgangssprachliche Redensart halten, zeigt wie tief die islamische Kultur im abendländischen Erbgut verwurzelt ist. Denn der Kadi ist gemäß islamischer Staatslehre ein Richter. Und bei uns ist er das offenbar auch.